Huffington Post / John Eichler / 22.09.2014
«Sein Vater kam aus ...» Wenn eine Biografie mit diesen
Worten beginnt, dann steht von Beginn an fest, dass das Kind nicht
wirklich dazugehören wird, sondern oft um jeden Zentimeter gerungen
werden muss. Denis Cusperts Leben begann symptomatisch; dass er
nun auf dem besten Weg zum deutschen «Staatsfeind Nr. 1» sein dürfte,
ist hingegen bemerkenswert.
Als der Vater vor Jahrzehnten von Ghana aufbrach, wo, wie in vielen
Ländern Afrikas, das Ende des Ramadan und Weihnachten gemeinsam gefeiert
werden, hätte er mit Sicherheit nicht im Traum daran gedacht, dass sein
zukünftiger Sohn eines Tages mit dem Ziel der Errichtung eines
islamistischen Gottesstaates Kämpfer der Millatu Ibrahim im irakischen Mosul anführen könnte.
Welche
Gedanken er sich später über die Zukunft seines Sohnes machte, als er
die kleine Berliner Familie schon kurz nach dessen Geburt verließ,
wissen wir nicht. Viele dieser Väter hatten es ihm zuvor gleichgetan.
Die Mütter mit den Kindern, deren Väter von woanders herkamen, blieben
zurück in einem Nichts von sich widersprechenden Gefühlen.
Sie waren die «verbotenen Stufen hinabgestiegen und von dem Niederen für diesen Schritt nicht gelobpreist, sondern schnöde verlassen worden»
(aus dem Roman «Verbotenes Land»). Das Leben ihrer Kinder blieb für sie
ein ebenso großes Mysterium wie zuvor die Liebe zu deren Vätern.
Denis Cuspert - später Deso Dogg, dann Abou Maleeq
und heute mit einem arabischen Kampfnamen versehen - entstammte einer
solchen Beziehung wie hunderttausende andere schwarze Deutsche, deren
Lebenswege dann oft der mehrheitlichen Wahrnehmung ihrer Hautfarbe
entsprechen. Wie schon der Protagonist in Max Frischs
Meisterwerk «Stiller» erkennen musste, ist es kaum möglich, sich einem
von der Gesellschaft gesetzten Rahmen, einem wodurch auch immer
gewachsenen Abbild zu entziehen.
Musste sich Stiller
lediglich dagegen wehren, derjenige zu sein, der er in seinem früheren
Leben gewesen war, um dem Abbild der anderen zu entfliehen. Handelte es
sich bei Denis Cuspert im besten Fall um einen, dessen Vater aus Afrika
kam. Diesem Abbild zu entkommen, für das noch nicht einmal ein Name,
sondern nur eine umständliche Beschreibung existierte, war ein
unmögliches Unterfangen.
Ein schwarzer und ein weißer Elternteil;
und dazwischen ein Kind, dass sich weder in dem einen noch dem anderen
wiederfindet. Neben dieser grundsätzlichen Isolierung kam das Leben in
einer Gesellschaft hinzu, die noch immer darüber diskutiert, ob die
komplette Streichung des Wortes «Neger» aus dem Duden zu einer
Verkürzung der deutschen Sprache führen könnte.
Es liegt nahe,
bei einer solchen Ausgangssituation weit weg vom «Hort des Übels» nach
Antworten zu suchen. Hatte doch bereits die junge Bundesrepublik selbst
Zweifel daran, ob Kindern wie Denis Cuspert «allein die klimatischen Bedingungen in unserem Lande nicht gemäß sind» und stellte in einer Ausschussberatung des Bundestages im Jahre 1952 fest, dass «diese Mischlingsfrage (...) ein innerdeutsches Problem bleiben (...) und nicht einfach zu lösen sein wird» ... in unserem Land.
Man
vermutet sicher, dass Denis Cuspert in bzw. durch Berlin-Kreuzberg zum
islamistischen Extremisten wurde. Doch die Texte seiner kurzen Karriere
als Rapper in «Sorgenkind», «Wer hat Angst vor'm Schwarzen Mann», «Kein
Nigga» sowie der Umstand, dass er nach Deso Dogg unter dem Namen Abou Maleeq auftrat, zeichnen eine wahrscheinlichere Linie.
Diese führt von dem bahnbrechenden Album «Fear of a Black Planet» von Public Enemy (1990) über «Sleeping with the Enemy» von Oscar Jackson, Jr. aka Paris (1992) und anderen US-amerikanischen Rappern mit einer Nähe zur vom charismatischen Louis Farrakhan geführten Nation of Islam und deren im Jahre 1965 ermordetem wichtigsten Redner Malcolm X. Ob es Unwissen oder bewusste Verdrehung war, ist nicht bekannt; jedenfalls hatte der Begründer der Nation of Islam Elijah Muhammad bis in die 1960er Jahre hinein behauptet, der Islam sei die originäre Religion des «Schwarzen Mannes».
Dieser Irrglaube führte beispielsweise dazu, dass Malcolm X (später El-Hajj Malik El-Shabazz)
auf seiner Pilgerreise nach Mekka 1964 erstaunt feststellen musste,
dass neben ihm blonde, blauäugige Moslems beteten, obwohl er selbst
zuvor stets vom «blue-eyed devil», dem blauäugigen Teufel, gesprochen
hatte.
Unabhängig von diesen evidenten Ungereimtheiten,
insbesondere von der geschichtlichen Tatsache, dass Afrikaner schon
viele Jahrhunderte vor dem Beginn des europäischen Sklavenhandels in
großen Menschenjagden gefangen und als Sklaven in arabisch-islamische
Staaten verbracht worden waren - nach dem großen Aufstand der
afrikanischen Sklaven (genannt «Zandsch») auf dem Gebiet des heutigen
südlichen Irak (869-883) vorzugsweise kastriert als Eunuchen -, besaß
und besitzt die Nation of Islam spürbaren Einfluss auf die
afrikanisch-amerikanische (oder wie sie hierzulande noch benannt wird:
afro-amerikanische) Community.
Dabei profitiert die Nation of
Islam - im Übrigen keine islamistische Organisation - trotz des
Zerwürfnisses bis zum heutigen Tage von der Kraft der Reden eines
Malcolm X, der rhetorisch unerreicht im Kern Bürger- und Menschenrechte
für die schwarzen Amerikaner einforderte und kurz vor seinem Tod einen
Panafrikanismus im Sinne von Kwame Nkrumah, dem ersten Präsidenten des unabhängigen Ghana, propagierte.
Seit
den frühen 2000er Jahren wurden die Reden von Malcolm X von der
islamistischen Propaganda entdeckt und konsequent für deren Zwecke
missbraucht. Es existieren etliche YouTube-Videos, die mittels aus dem
Kontext gerissener Redefragmente von Malcolm X einen vermeintlichen
Zusammenhang zwischen dem Kampf der schwarzen Amerikaner gegen Rassismus
und Segregation im letzten Jahrhundert einerseits und dem
islamistischer Kräfte gegen den «Westen» heute andererseits
konstruieren, was blanker Unsinn ist.
Denn die islamistischen
Eiferer sind Symptom eines seit Jahrzehnten andauernden
inner-islamischen, inner-arabischen Konflikts. Der Kampf der schwarzen
Amerikaner hingegen stand in einem geschichtlichen Kontext mit den
afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen der 1950er und 1960er Jahre
sowie mit dem Kampf der Südafrikaner gegen Apartheid und kann sicher
auch verglichen werden mit dem Aufstand der «Zandsch» im 9. Jahrhundert.
Der Begriff «Zandsch» ist als generelle Bezeichnung für afrikanische
Sklaven übrigens das arabische Pendant für «Neger» oder «Nigger».
Ist
Denis Cuspert in diese oder eine ähnliche Propagandafalle getappt? Sehr
wahrscheinlich ja. Denn es ist keinerlei Logik darin zu erkennen, dass
der Sohn einer Deutschen und eines Ghanaers aus Berlin jetzt im Irak für
die Errichtung eines islamistischen Gottesstaates kämpft, in welchem
seine afrikanischen männlichen Vorfahren bis zum Jahre 1924, dem Jahr
der (offiziellen) Abschaffung der Sklaverei von afrikanischen Menschen
im Irak, lediglich kastriert als Eunuchen Eintritt erhielten.
Historiker
gehen wegen dieser Kastrationspraxis im Übrigen davon aus, dass trotz
der millionenfachen Versklavung von Afrikanern in den arabischen Ländern
des nahen und mittleren Ostens kaum sichtbare Nachkommen dieser Sklaven
existieren.
Die einzigen Nachkommen entstammten von den
weiblichen Sklaven, die nicht sterilisiert, sondern in erster Linie für
sexuelle Dienste eingesetzt wurden. Deren Kinder und Kindeskinder gingen
später in der Mehrheitsgesellschaft auf. Ein verabscheuungswürdiges,
ein perverses System, das mehr als eintausend Jahre fortdauerte in den
Ländern des Propheten und - Ironie der Geschichte - ohne die europäische
Kolonisation des nahen und mittleren Ostens wohl niemals nachhaltig
einer kritischen Betrachtung zugeführt worden wäre; jedenfalls nicht aus
islamisch-religiösen Gründen.
Wenn man am Beispiel der
Vereinigten Staaten bedenkt, wie tief sich Zeiten der Sklaverei - und
insbesondere einer Sklaverei nach Rasse - in das Bewusstsein einer
Nation einbrennen, dann hat man eine leichte Vorstellung davon, was mehr
als eintausend Jahre Sklaverei von Afrikanern in arabischen Ländern
anrichteten; welche Perzeption «des Afrikaners», des «Zandsch» dort
heute vorherrschen mag.
Was also sucht der schwarze Deutsche Denis Cuspert gerade dort? Wir werden es wohl niemals erfahren.
Die Texte von Deso Dogg
standen ursprünglich in der Tradition des schwarzen deutschen Hip-Hop,
der sich mit dem oft zähen Leben in der Mehrheitsgesellschaft
auseinandersetzt. Der Ursprung dieser Reflektion sind die
Ungerechtigkeiten, die schwarze Deutsche vom ersten Tag an erfahren.
Zahlreiche Hip-Hop-Formationen - beginnend mit Advanced Chemistry
(«Fremd im eigenen Land»); später dann auch das beeindruckende Hip-Hop
Projekt «Brother's Keepers» und viele andere - haben diesen Erfahrungen
erstmals eine wahrnehmbare Stimme und eine künstlerische Form gegeben.
Sicher
fand Deso Dogg in der Hip-Hop Community kurzzeitig etwas, was er später
in der Moschee und heute im Nahen Osten weitersucht. Er wird nicht
fündig werden, denn die Lücke ist strukturell bedingt. Schwarzen
Deutschen fehlt eine Eltern- und auch eine Großelterngeneration mit den
gleichen Erfahrungen. Dieses Manko ist nicht auszugleichen.
Auch
wenn eine Mutter, (manchmal sogar) ein Vater und (sehr oft) Großeltern
anwesend sind; das allgemeine Unverständnis, die Sprachlosigkeit in den
Familien ist groß. Jeder ist überfordert; und zwar permanent und das
über Jahre. Es bleibt kein Raum für Schuldzuweisungen. Schwarze Deutsche
sind ein jeweils singuläres, ein individuelles Phänomen, das - seit
Jahrhunderten - in der Mehrheitsgesellschaft aufgeht und kaum Spuren
hinterlässt.
Dennoch existiert über die Generationen hinweg bei
einigen so etwas wie ein geschwisterliches Gefühl der Verbundenheit. Das
ist der Grund für meinen Text. Ich verstehe diesen Drang, diese einsame
Suche nach einem Sinn, die wohl weder hier noch in Afrika noch sonst wo
jemals enden wird; auf der man sich aber selbst verlieren kann.
Ich habe einige dieser Schicksale gesehen, die in psychiatrischen Einrichtungen, Drogen oder Suizid endeten. Ich habe die von Jana Simon ergreifend sanft aufgeschriebene Geschichte des Felix S.
gelesen. Der Buchtitel («Denn wir sind anders») bezog sich nicht auf
die südafrikanischen Wurzeln von Felix S., sondern auf seine
Mitgliederschaft bei den Ostberliner Hooligans. Aberwitzig möchte man
meinen, wäre es nicht so tragisch; so tragisch wie Denis Cusperts Weg an
einen Ort, wo Menschen Köpfe abgeschnitten werden und dabei Gott
gepriesen wird.
Natürlich spricht alles dafür, dass es zu spät
ist. Die schwere Kindheit ist vorüber. Danach fragt keiner mehr, wenn
das Handeln selbst verantwortet werden muss. Dennoch würde ich Denis,
den ich niemals getroffen, aber dessen Texte ich gelesen habe, jetzt
sagen wollen: «Komm zurück nach Hause, Bruder. Wo auch immer dieses
Zuhause eines Tages sein wird; dort, wo du jetzt bist, ist es jedenfalls
nicht.»
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