Samstag, 31. Oktober 2015

Ein verpfuschtes Leben

 Huffington Post / John Eichler / 22.09.2014

«Sein Vater kam aus ...» Wenn eine Biografie mit diesen Worten beginnt, dann steht von Beginn an fest, dass das Kind nicht wirklich dazugehören wird, sondern oft um jeden Zentimeter gerungen werden muss. Denis Cusperts Leben begann symptomatisch; dass er nun auf dem besten Weg zum deutschen «Staatsfeind Nr. 1» sein dürfte, ist hingegen bemerkenswert.

Als der Vater vor Jahrzehnten von Ghana aufbrach, wo, wie in vielen Ländern Afrikas, das Ende des Ramadan und Weihnachten gemeinsam gefeiert werden, hätte er mit Sicherheit nicht im Traum daran gedacht, dass sein zukünftiger Sohn eines Tages mit dem Ziel der Errichtung eines islamistischen Gottesstaates Kämpfer der Millatu Ibrahim im irakischen Mosul anführen könnte.
Welche Gedanken er sich später über die Zukunft seines Sohnes machte, als er die kleine Berliner Familie schon kurz nach dessen Geburt verließ, wissen wir nicht. Viele dieser Väter hatten es ihm zuvor gleichgetan. Die Mütter mit den Kindern, deren Väter von woanders herkamen, blieben zurück in einem Nichts von sich widersprechenden Gefühlen.
Sie waren die «verbotenen Stufen hinabgestiegen und von dem Niederen für diesen Schritt nicht gelobpreist, sondern schnöde verlassen worden» (aus dem Roman «Verbotenes Land»). Das Leben ihrer Kinder blieb für sie ein ebenso großes Mysterium wie zuvor die Liebe zu deren Vätern.
Denis Cuspert - später Deso Dogg, dann Abou Maleeq und heute mit einem arabischen Kampfnamen versehen - entstammte einer solchen Beziehung wie hunderttausende andere schwarze Deutsche, deren Lebenswege dann oft der mehrheitlichen Wahrnehmung ihrer Hautfarbe entsprechen. Wie schon der Protagonist in Max Frischs Meisterwerk «Stiller» erkennen musste, ist es kaum möglich, sich einem von der Gesellschaft gesetzten Rahmen, einem wodurch auch immer gewachsenen Abbild zu entziehen.
Musste sich Stiller lediglich dagegen wehren, derjenige zu sein, der er in seinem früheren Leben gewesen war, um dem Abbild der anderen zu entfliehen. Handelte es sich bei Denis Cuspert im besten Fall um einen, dessen Vater aus Afrika kam. Diesem Abbild zu entkommen, für das noch nicht einmal ein Name, sondern nur eine umständliche Beschreibung existierte, war ein unmögliches Unterfangen.
Ein schwarzer und ein weißer Elternteil; und dazwischen ein Kind, dass sich weder in dem einen noch dem anderen wiederfindet. Neben dieser grundsätzlichen Isolierung kam das Leben in einer Gesellschaft hinzu, die noch immer darüber diskutiert, ob die komplette Streichung des Wortes «Neger» aus dem Duden zu einer Verkürzung der deutschen Sprache führen könnte.
Es liegt nahe, bei einer solchen Ausgangssituation weit weg vom «Hort des Übels» nach Antworten zu suchen. Hatte doch bereits die junge Bundesrepublik selbst Zweifel daran, ob Kindern wie Denis Cuspert «allein die klimatischen Bedingungen in unserem Lande nicht gemäß sind» und stellte in einer Ausschussberatung des Bundestages im Jahre 1952 fest, dass «diese Mischlingsfrage (...) ein innerdeutsches Problem bleiben (...) und nicht einfach zu lösen sein wird» ... in unserem Land.
Man vermutet sicher, dass Denis Cuspert in bzw. durch Berlin-Kreuzberg zum islamistischen Extremisten wurde. Doch die Texte seiner kurzen Karriere als Rapper in «Sorgenkind», «Wer hat Angst vor'm Schwarzen Mann», «Kein Nigga» sowie der Umstand, dass er nach Deso Dogg unter dem Namen Abou Maleeq auftrat, zeichnen eine wahrscheinlichere Linie.
Diese führt von dem bahnbrechenden Album «Fear of a Black Planet» von Public Enemy (1990) über «Sleeping with the Enemy» von Oscar Jackson, Jr. aka Paris (1992) und anderen US-amerikanischen Rappern mit einer Nähe zur vom charismatischen Louis Farrakhan geführten Nation of Islam und deren im Jahre 1965 ermordetem wichtigsten Redner Malcolm X. Ob es Unwissen oder bewusste Verdrehung war, ist nicht bekannt; jedenfalls hatte der Begründer der Nation of Islam Elijah Muhammad bis in die 1960er Jahre hinein behauptet, der Islam sei die originäre Religion des «Schwarzen Mannes».
Dieser Irrglaube führte beispielsweise dazu, dass Malcolm X (später El-Hajj Malik El-Shabazz) auf seiner Pilgerreise nach Mekka 1964 erstaunt feststellen musste, dass neben ihm blonde, blauäugige Moslems beteten, obwohl er selbst zuvor stets vom «blue-eyed devil», dem blauäugigen Teufel, gesprochen hatte.
Unabhängig von diesen evidenten Ungereimtheiten, insbesondere von der geschichtlichen Tatsache, dass Afrikaner schon viele Jahrhunderte vor dem Beginn des europäischen Sklavenhandels in großen Menschenjagden gefangen und als Sklaven in arabisch-islamische Staaten verbracht worden waren - nach dem großen Aufstand der afrikanischen Sklaven (genannt «Zandsch») auf dem Gebiet des heutigen südlichen Irak (869-883) vorzugsweise kastriert als Eunuchen -, besaß und besitzt die Nation of Islam spürbaren Einfluss auf die afrikanisch-amerikanische (oder wie sie hierzulande noch benannt wird: afro-amerikanische) Community.
Dabei profitiert die Nation of Islam - im Übrigen keine islamistische Organisation - trotz des Zerwürfnisses bis zum heutigen Tage von der Kraft der Reden eines Malcolm X, der rhetorisch unerreicht im Kern Bürger- und Menschenrechte für die schwarzen Amerikaner einforderte und kurz vor seinem Tod einen Panafrikanismus im Sinne von Kwame Nkrumah, dem ersten Präsidenten des unabhängigen Ghana, propagierte.
Seit den frühen 2000er Jahren wurden die Reden von Malcolm X von der islamistischen Propaganda entdeckt und konsequent für deren Zwecke missbraucht. Es existieren etliche YouTube-Videos, die mittels aus dem Kontext gerissener Redefragmente von Malcolm X einen vermeintlichen Zusammenhang zwischen dem Kampf der schwarzen Amerikaner gegen Rassismus und Segregation im letzten Jahrhundert einerseits und dem islamistischer Kräfte gegen den «Westen» heute andererseits konstruieren, was blanker Unsinn ist.
Denn die islamistischen Eiferer sind Symptom eines seit Jahrzehnten andauernden inner-islamischen, inner-arabischen Konflikts. Der Kampf der schwarzen Amerikaner hingegen stand in einem geschichtlichen Kontext mit den afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen der 1950er und 1960er Jahre sowie mit dem Kampf der Südafrikaner gegen Apartheid und kann sicher auch verglichen werden mit dem Aufstand der «Zandsch» im 9. Jahrhundert. Der Begriff «Zandsch» ist als generelle Bezeichnung für afrikanische Sklaven übrigens das arabische Pendant für «Neger» oder «Nigger».
Ist Denis Cuspert in diese oder eine ähnliche Propagandafalle getappt? Sehr wahrscheinlich ja. Denn es ist keinerlei Logik darin zu erkennen, dass der Sohn einer Deutschen und eines Ghanaers aus Berlin jetzt im Irak für die Errichtung eines islamistischen Gottesstaates kämpft, in welchem seine afrikanischen männlichen Vorfahren bis zum Jahre 1924, dem Jahr der (offiziellen) Abschaffung der Sklaverei von afrikanischen Menschen im Irak, lediglich kastriert als Eunuchen Eintritt erhielten.
Historiker gehen wegen dieser Kastrationspraxis im Übrigen davon aus, dass trotz der millionenfachen Versklavung von Afrikanern in den arabischen Ländern des nahen und mittleren Ostens kaum sichtbare Nachkommen dieser Sklaven existieren.
Die einzigen Nachkommen entstammten von den weiblichen Sklaven, die nicht sterilisiert, sondern in erster Linie für sexuelle Dienste eingesetzt wurden. Deren Kinder und Kindeskinder gingen später in der Mehrheitsgesellschaft auf. Ein verabscheuungswürdiges, ein perverses System, das mehr als eintausend Jahre fortdauerte in den Ländern des Propheten und - Ironie der Geschichte - ohne die europäische Kolonisation des nahen und mittleren Ostens wohl niemals nachhaltig einer kritischen Betrachtung zugeführt worden wäre; jedenfalls nicht aus islamisch-religiösen Gründen.
Wenn man am Beispiel der Vereinigten Staaten bedenkt, wie tief sich Zeiten der Sklaverei - und insbesondere einer Sklaverei nach Rasse - in das Bewusstsein einer Nation einbrennen, dann hat man eine leichte Vorstellung davon, was mehr als eintausend Jahre Sklaverei von Afrikanern in arabischen Ländern anrichteten; welche Perzeption «des Afrikaners», des «Zandsch» dort heute vorherrschen mag.
Was also sucht der schwarze Deutsche Denis Cuspert gerade dort? Wir werden es wohl niemals erfahren.
Die Texte von Deso Dogg standen ursprünglich in der Tradition des schwarzen deutschen Hip-Hop, der sich mit dem oft zähen Leben in der Mehrheitsgesellschaft auseinandersetzt. Der Ursprung dieser Reflektion sind die Ungerechtigkeiten, die schwarze Deutsche vom ersten Tag an erfahren.
Zahlreiche Hip-Hop-Formationen - beginnend mit Advanced Chemistry («Fremd im eigenen Land»); später dann auch das beeindruckende Hip-Hop Projekt «Brother's Keepers» und viele andere - haben diesen Erfahrungen erstmals eine wahrnehmbare Stimme und eine künstlerische Form gegeben.
Sicher fand Deso Dogg in der Hip-Hop Community kurzzeitig etwas, was er später in der Moschee und heute im Nahen Osten weitersucht. Er wird nicht fündig werden, denn die Lücke ist strukturell bedingt. Schwarzen Deutschen fehlt eine Eltern- und auch eine Großelterngeneration mit den gleichen Erfahrungen. Dieses Manko ist nicht auszugleichen.
Auch wenn eine Mutter, (manchmal sogar) ein Vater und (sehr oft) Großeltern anwesend sind; das allgemeine Unverständnis, die Sprachlosigkeit in den Familien ist groß. Jeder ist überfordert; und zwar permanent und das über Jahre. Es bleibt kein Raum für Schuldzuweisungen. Schwarze Deutsche sind ein jeweils singuläres, ein individuelles Phänomen, das - seit Jahrhunderten - in der Mehrheitsgesellschaft aufgeht und kaum Spuren hinterlässt.
Dennoch existiert über die Generationen hinweg bei einigen so etwas wie ein geschwisterliches Gefühl der Verbundenheit. Das ist der Grund für meinen Text. Ich verstehe diesen Drang, diese einsame Suche nach einem Sinn, die wohl weder hier noch in Afrika noch sonst wo jemals enden wird; auf der man sich aber selbst verlieren kann.
Ich habe einige dieser Schicksale gesehen, die in psychiatrischen Einrichtungen, Drogen oder Suizid endeten. Ich habe die von Jana Simon ergreifend sanft aufgeschriebene Geschichte des Felix S. gelesen. Der Buchtitel («Denn wir sind anders») bezog sich nicht auf die südafrikanischen Wurzeln von Felix S., sondern auf seine Mitgliederschaft bei den Ostberliner Hooligans. Aberwitzig möchte man meinen, wäre es nicht so tragisch; so tragisch wie Denis Cusperts Weg an einen Ort, wo Menschen Köpfe abgeschnitten werden und dabei Gott gepriesen wird.
Natürlich spricht alles dafür, dass es zu spät ist. Die schwere Kindheit ist vorüber. Danach fragt keiner mehr, wenn das Handeln selbst verantwortet werden muss. Dennoch würde ich Denis, den ich niemals getroffen, aber dessen Texte ich gelesen habe, jetzt sagen wollen: «Komm zurück nach Hause, Bruder. Wo auch immer dieses Zuhause eines Tages sein wird; dort, wo du jetzt bist, ist es jedenfalls nicht.»

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